Über optische Erscheinungen an Spinnwebfäden habe ich schon berichtet [1], [2], dabei ging es hauptsächlich um Radnetze und die mit Klebetröpfchen besetzten Fangfäden von Radnetzen. Die trockenen Fäden sind für das unbewehrte Auge viel weniger auffällig, aber neulich staunte ich über eine Serie von Fotos in dem Blog “The Natural History of Bodega Head” von Jackie Sones, die unscharf abgebildete, aber sehr bunt gestreifte Glanzstellen mit schmalen, abgerundeten oder auch spitz zulaufenden Enden zeigten [3a, b, c, d, e, f]. Hier zwei Beispiele:
Wie kommt es zu dieser Form? Sollte man nicht erwarten, dass der Faden, da wo er glänzt, genau so unscharf, also genau so breit abgebildet wird wie die nichtglänzenden Stellen, dass also die Glanzstellen eher rechteckig erscheinen sollten?
Eine Zitterspinne, die ihr wirres Netz in einer von der Sonne beschienenen Ecke gesponnen hatte, bot mir die Gelegenheit, das zu untersuchen. Zigarrenförmige, gestreifte Glanzstellen konnte ich erhalten, aber die Ergebnisse hängen anscheinend sehr von der Kamera ab. Die Fotos oben wurden mit einer Spiegelreflexkamera mit 22.5 × 15 mm großem Sensor gemacht; der Sensor meiner Kamera misst 6 × 4.5 mm.
Mit freiem Auge sieht man das nicht so, denn man fokussiert unwillkürlich auf die Stelle, auf die man schaut, und dann verschwinden die Farben größtenteils. Aber selbst wenn man mit einem glänzenden Faden in der Nähe den entfernten Hintergrund anschaut, sieht man den Glanz nicht so wie auf den Fotos. Mit dem Fotoapparat kann man beliebig defokussieren und man kann Details aus einem hochauflösenden Foto vergrößern.
Im dritten Bild sieht man einige Glanzstellen an Fäden, die verschieden weit außerhalb des Schärfebereiches liegen. Das vierte Bild zeigt ein Detail desselben Netzes, aber es ist auf unendlich scharf gestellt. Die Breite der farbigen Streifen ist der scheinbare Sonnendurchmesser, die Länge der Streifen ist die scheinbare Breite der völlig unscharf abgebildeten Fäden, von denen man auf diesem Bild nichts außer den Glanzstellen sieht. Je näher die Fäden, desto länger die Streifen. Stellt man hingegen auf einen Faden scharf, so würde das Bild der Sonne ganz unscharf und man sieht den Glanz an einem Fadenstück, dessen Länge dem Durchmesser des unscharfen Sonnenbildes bei dieser Einstellung entspricht.
Die Farben entstehen durch Interferenz. Die Seidenfäden sind nämlich nicht völlig glatt, sondern vermutlich runzelig und nicht ganz gleichmäßig dick. Das führt dazu, dass die Lichtwellen, die bei unscharfer Einstellung auf einem Punkt des Sensors treffen und sich überlagern, verschieden lange Wege zurückgelegt haben und sich daher, je nach Phasenunterschied, abschwächen, auslöschen oder verstärken können. Was geschieht, hängt von den optischen Wegunterschieden und der Wellenlänge ab, und so werden Bereiche im Spektrum unterdrückt, was wir als Farbe wahrnehmen.
Aber wie kommt die seltsame Form der Glanzstellen zustande?
Wir betrachten die einfachst mögliche geometrische Anordnung. Der Seidenfaden soll horizontal verlaufen und die Sonnenstrahlen darauf senkrecht einfallen. Der Faden wird als unendlich dünn und glatt angesehen. Die Kamera blickt genau senkrecht auf den Faden und die glänzende Stelle. Die Blende begrenzt das Strahlenbüschel, das in die Kamera eintritt. Wir nehmen an, dass die Öffnung kreisrund ist.
Unten ist eine Seitenansicht und darunter die Draufsicht skizziert. In der Seitenansicht ist der seidene Faden ein Punkt. Durch die Reflexion wird der Lichtstrahl aufgefächert und trifft im Abstand a vom Faden auf eine ideale, sehr dünne Linse. Durch die werden die Strahlen gebrochen und treffen sich wieder im Bild des Fadens (auf dem Sensor der Kamera).
In der Draufsicht ist zu sehen, dass die reflektierten Strahlen alle denselben Winkel mit dem Faden einschließen wie die einfallenden, der hier 90° beträgt. Daher passieren im weiteren Verlauf alle Strahlen eine vertikale Linie, die durch den Brennpunkt der Linse geht.
Hier und im folgenden wird von „Reflexion“ des Lichtes am Seidenfaden gesprochen. Vielleicht wäre es besser, die Begriffe „Streuung“ oder „Ablenkung“ zu verwenden, denn auch Lichtbrechung am durchsichtigen Faden und Beugung tragen bei. Für die geometrische Betrachtung des Strahlenganges ist diese Unterscheidung aber bedeutungslos. Obwohl auf den Bildern Beugungs- und Interferenzeffekte deutlich zu sehen sind, sollen diese zunächst nicht berücksichtigt und die Form so einer unscharf abgebildeten Glanzstelle rein strahlenoptisch betrachtet werden.
Perspektivische Skizzen rechts zeigen die Anordnung noch einmal, jetzt von der Seite des Fotografen aus gesehen. In der ersten Skizze werden nur die von einem einzigen Punkt des Seidenfadens ausgehenden Lichtstrahlen betrachtet. Die Strahlen treffen entlang einer vertikalen Linie auf die Linse und werden dort so gebrochen, dass sie sich in einem Punkt im Bild des Fadens treffen.
Das zweite Bild zeigt schematisch die Abbildung der Glanzstelle eines Fadens. Das Licht kommt von hinten (oben) und wird von dem glänzenden Faden reflektiert. Vom Faden ausgehend sind nur die Lichtstrahlen eingezeichnet, die den äußersten Rand der Linse passieren, und diese nur so weit, bis sie das Bild der Glanzstelle – eine horizontale Linie – formen. Dort würde sich der Sensor der Kamera befinden, wenn auf den Faden scharf gestellt wurde.
Wird die Kamera so eingestellt, dass sich der Sensor knapp vor der Schärfeebene befindet, so ist das Bild der Glanzstelle auf dem Sensor eine schlanke Ellipse. Das ist im Bild ganz rechts zu sehen, wo die Strahlen kurz vor der Schärfeebene enden.
Wird der Abstand zwischen Linse und Sensor immer weiter verringert, so wird die Ellipse erst kürzer und dicker, dann ein Kreis, dann höher als breit und schließlich, wenn der Abstand genau die Brennweite f der Linse ist (d.h. wenn auf unendlich scharf gestellt wurde), eine vertikale Linie.
Wenn die Sonne viel kleiner, „punktförmig“, wäre, dann wären die Glanzstellen im vierten Foto oben ganz dünne Linien. Der Einfachheit halber wurde dies hier angenommen.
Berücksichtigt man die Ausdehnung der Sonne, so ist noch über das Sonnenscheibchen zu integrieren, salopp ausgedrückt: es sind viele derartige Ellipsenscheibchen zu überlagern, die gegeneinander, aber nur in Richtung des Fadens, verschoben sind.
Beugungseffekte treten umso deutlicher in Erscheinung, je kleiner der Durchmesser der Blendenöffnung ist. Das erste Bild in der zweiten Reihe wurde mit Brennweite 8.4 mm und Blendenweite f/4, also 2.1 mm aufgenommen und der Bildausschnitt war auf dem Sensor 1.8 mm breit. Die Fresnelsche Beugung führt hier zu dunklen, zum Faden parallelen Streifen in den Bildern der Glanzstellen und zu deren diffusen Rändern.
Die betrachteten Glanzstellen stammen alle von Fäden ohne Klebetröpfchen, die wie Beugungsgitter wirken könnten. Aber die bunten Interferenzstreifen zeigen, dass die Fäden auf mikroskopischer Skala nicht glatt sind, sondern leicht runzelig, faltig oder ungleichmäßig dick. Die Falten oder Dickeschwankungen können völlig unregelmäßig sein oder aber gewisse Regelmäßigkeit aufweisen wie z.B. annähernd periodische Wiederholungen. Das hat zur Folge, dass die auf eine Stelle des Sensors treffenden Teilwellen (im Sinne des Huygens-Fresnelschen Prinzips), die von benachbarten Stellen des Fadens kommen, sowohl konstruktiv als auch destruktiv interferieren können, weil die Strecken, die sie zurücklegen, entlang des Fadens unregelmäßig schwanken. Dies kann zu recht chaotische Farbfolgen führen wie auf den ersten beiden Bildern; rechts ein Beispiel mit einem überraschend regelmäßigen Streifenmuster in der unteren Hälfte (ebenfalls aus dem erwähnten Blog [3c]).
Je größer die Apertur ist, desto länger ist das Bild der Glanzstelle auf dem Foto, und entsprechend mehr bunte Streifen treten auf. Stellt man auf größere Entfernung scharf, so verringert sich die Zahl der Streifen bis, bei der Einstellung auf „unendlich“, nur noch ein einziger Streifen bleibt.
Strahlenoptisch wird in der einfachen Anordnung, die oben skizziert wurde, jeder Punkt des Fadens als eine senkrecht auf den Faden stehende Linie abgebildet, wenn nicht auf den Faden scharf gestellt wurde. Es ist daher zu erwarten, dass die durch Interferenz entstehenden farbigen Streifen ebenfalls senkrecht auf die Fadenrichtung stehen. In der Mitte der Glanzstellen ist das auch so, aber in der Nähe beider Endpunkte sind die Streifen gekrümmt. Ist der Faden zu nahe, um scharf abgebildet zu werden, dann sieht die Streifung der Glanzstellen etwa so aus: )))|||||(((, ist er zu weit weg, dann so: (((|||||))). Hier sind ein paar Beispiele:
Es gibt keine ideale Linse, die jeden Punkt einer Objektebene in beliebigem Abstand auf einen Punkt in der zugehörigen Bildebene abbildet. Photographische Objektive sind so konstruiert, dass sie dieses Ziel ohne Verzerrung des Bildes in guter Näherung erreichen, aber der Strahlengang hinter dem Objektiv ist nicht so einfach, wie es die obigen Skizzen nahelegen.
Wenn die Seidenfäden sehr uneinheitlich sind, von wechselnder Dicke usw., dann findet man auch Fresnelsche Beugungsbilder von „punktförmigen“ Lichtquellen dem gestreiften Beugungsbild überlagert. Das kann auftreten, wenn der Faden auf einem kurzen Stück deutlich dicker ist als in der Umgebung und entsprechend heller glänzt.
Außerdem wird der Faden nicht nur vom direkten Sonnenlicht, sondern auch vom Umgebungslicht beleuchtet, daher sieht man meist auch die Fäden, wo sie nicht glänzen. All dies findet sich in den Bildern unten. Das letzte (Quelle: [3f]) zeigt ein Detail eines Radnetzes einer Kreuzspinne. An den Stellen, wo die Fangfäden an der radialen Speiche befestigt sind, befinden sich anscheinend größere Klebetröpfchen, deren Glanz unscharf als Kreisscheiben abgebildet wird.